Kopenhagen: Eine Lösung für alle?

130 Jahre nach der Erfindung des Automobils stehen wir vor einem Umbruch: Neue Mobilitätskonzepte weisen hin auf eine multimobile Ära, in der sich Menschen individuell, flexibel und umweltbewusst fortbewegen. Dabei rücken Fußgänger und Radfahrer wieder zunehmend in den Fokus von Verkehrs- und Stadtplanung. Kopenhagen dient bei der Förderung des Fahrradverkehrs als weltweites Vorbild, im Ruhrgebiet wird mit dem Radschnellweg RS1 ein Pilotprojekt mit Beispielcharakter realisiert und auch Städte wie Sevilla, Oslo und Amsterdam gehen neue Wege. Elektrofahrräder sind ein wesentlicher Bestandteil: Ökonomisch und ökologisch sinnvoll befördern sie Menschen schnell und effizient ans Ziel.

Copenhagenize-Index

Mikael Colville-Andersen wird gerne gefeiert wie ein Star. Dabei ist der Mann, der aussieht wie Rock-Revoluzzer Bob Geldof in jüngeren Jahren, lediglich ein Stadtplaner.

Zugegeben, der Kopenhagener ist alles andere als gewöhnlich. Weltweit gilt er als einer der Einflussreichsten seiner Zunft.

Weil dem gelernten Filmemacher gemeinsam mit Mitstreitern wie dem Büro Gehl Architects ein wahres Wunder gelungen ist: Kaum eine Stadt fördert den Fahrradverkehr so vorbildlich wie Kopenhagen. Immer mehr Städte folgen diesem Beispiel – von Detroit über Berlin bis Almetjewsk im russischen Tartastan, von Buenos Aires und Sevilla über Rom bis Ljubljana.

Vor einigen Jahren hat Colville-Andersen den „Copenhagenize-Index“ erfunden, der mit Hilfe von 13 Parametern zurzeit 120 Städte erfasst: von der Länge des Radwegenetzes über den Ausbau der Infrastruktur bis hin zum Mix der Verkehrsmittel und dem politischen Willen zur Veränderung.

"Das ist eine Neuschreibung der Geschichte der Mobilität."

Keine Frage, wir leben in Zeiten der Umwälzung. Verkehrsmodelle orientieren sich immer mehr an Fußgängern und Radfahrern, im Verbund mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Erst dann am Auto. Colville-Andersen sagt: „Das ist eine Neuschreibung der Geschichte der Mobilität.“

Der Weg in diese neue Ära ist allerdings lang. Doch Studien aus europäischen Metropolen zeigen, wie diese „urbane Mobilität“ aussieht: Eine repräsentative Befragung des Innovationszentrums für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel in Berlin und London belegt beispielsweise einen klaren Trend hin zu Fahrrad, Elektro-Fahrzeugen und Sharing-Konzepten - weg vom eigenen Pkw. Entscheidend sei bei diesem veränderten Verhalten, wie das Smartphone als Schaltzentrale eingebunden ist.

 

Insbesondere das Fahrrad bietet für Gesellschaft und Umwelt ungeahnte Möglichkeiten.

In einer Studie analysiert das US-amerikanische Institute for Transportation and Development Policy das globale Potenzial: Würde sich der Rad-Anteil bis 2050 weltweit verdreifachen, ließen sich Energiekosten von rund 24 Billionen Dollar einsparen und die Emissionen von klimaschädlichem CO2 für die innerstädtische Beförderung von Personen in diesem Zeitraum um elf Prozent reduzieren.

 

Der Wandel lohnt sich auch für den täglichen Güterverkehr

Der Einsatz von beispielsweise eCargo-Bikes als Transportmittel entlastet den Straßenverkehr und die Umwelt. 
Voraussetzung für all das seien allerdings „eine Kombination aus Investitionen und kluger Steuerpolitik“, so Benedicte Swennen von der European Cyclists’ Federation (ECF), die gemeinsam mit dem Cycling Industry Club (CIC) das Radfahren als nachhaltiges und gesundes Fortbewegungsmittel in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik fördert – auch mit Unterstützung von Bosch eBike Systems. Bei einer neuen Mobilitätskultur ist aber noch etwas anderes wichtig, so Wolfgang Rid, Professor am Städtebau-Institut der Universität Stuttgart: „Weil es um ein verändertes Nutzerverhalten aller Bevölkerungsschichten geht, muss ein intensiver Dialog mit den Bürgern geführt werden.“

Fünf Beispiele in Europa zeigen, wie diese neuen Konzepte im Alltag funktionieren:

1. Kopenhagen

Ist jetzt offiziell die erste „Bike City“ der Welt und weltberühmt für seine Radkultur. Mehr als die Hälfte aller Einwohner fahren mit dem Rad zu Arbeit oder Schule. Bei den Pendlern, die aus dem Umland in die Stadt fahren, liegt die Quote immerhin bei 45 Prozent.

Dabei hilft auch ein Netz aus so genannten „Cycle Super Highways“ – inklusive grüner Ampelphasen, Garagen, Radständern und Relings an den Kreuzungen, damit die Füße auf den Pedalen bleiben können. Übrigens: 25 Prozent aller Familien mit zwei Kindern haben ein Lastenfahrrad. Auch Louise Vogel Kielgast, die in Kopenhagen als Stadtplanerin bei Gehl Architects arbeitet und täglich in 17 Minuten ins Büro radelt. „Wir haben hier wirklich den Fahrrad-Himmel“, sagt sie.

2. Sevilla

Früher galten diejenigen, die mit dem Fahrrad durch die Stadt im spanischen Andalusien wollten, als mutig und waghalsig. Das hat sich gewandelt. Innerhalb von vier Jahren ist der Rad-Anteil im Straßenverkehr von null auf neun Prozent gestiegen. „Unser Rezept war die Vernetzung der bislang insgesamt 70 Kilometer Radwegen auf zwei Spuren, aber auch die Schnelligkeit beim Bau“, erzählt Ricardo Marques Sillero, einer der Pioniere der ungewöhnlichen Rad-Revolution in Spanien. Mittlerweile fahren mehr als 70 000 Sevillanos täglich Rad. Manche von ihnen pendeln neuerdings mit dem Auto bis an den Stadtrand und nutzen dann eines der Leihräder an den 250 Stationen der Sevici-Kette.

3. Ruhrgebiet

Es geht voran mit dem Radschnellweg RS1: Im Juni 2016 wurde am Mülheimer Hauptbahnhof der symbolische Spatenstich für den nächsten Bauabschnitt gesetzt. Der neben dem eRadschnellweg in Göttingen bundesweit erste Radschnellweg entsteht zwischen Duisburg und Hamm auf einer Länge von 101 Kilometern. Er verbindet zehn Städte und vier Universitäten – weitgehend kreuzungsfrei, mit ausreichend breiten Fahrbahnen für jede Richtung und mit Beleuchtung und Winterdienst. Vorbilder sind die „Cycle Super Highways“ in Kopenhagen, London und den Niederlanden. Ein Teil des Schnellwegs nutzt die ehemalige Gütertrasse der Rheinischen Bahn.

4. Oslo

Norwegen macht Ernst: Der „Nationale Verkehrsplan“ sieht vor, dass ab 2025 nur noch Elektroautos als Neuwagen zugelassen werden. Nun soll die Hauptstadt weltweit zum „next big thing“ für neue Mobilität werden. Ein Verbot für Autos in der Innenstadt wurde ab dem Jahr 2019 bereits beschlossen. Im Juni haben die Stadtentwickler zudem einen wegweisenden Plan vorgestellt, der unter Mobilitätsexperten unter dem Namen „The Oslo Standard“ kursiert. Der Rad-Anteil im Straßenverkehr soll in den kommenden Jahren auf mindestens 20 Prozent steigen, Parkplätze von Autos werden zugunsten von Radwegen entfernt, eBikes werden staatlich subventioniert und parallel dazu der öffentliche Nahverkehr ausgebaut.

5. Amsterdam

In den Niederlanden gibt es mit 22 Millionen schon jetzt fünf Millionen mehr Räder als Menschen. Das Land gilt als beispielhaft für neue urbane Konzepte. Auch weil es Webseiten wie „Dutch Cycling Festival“ gibt, auf denen Mobilitäts- und Fahrradexperten ihre Erfahrungen mit anderen Städten und Gemeinden teilen. Während der EU-Ratspräsidentschaft der Niederlande in den ersten Monaten des Jahres 2016 lud die Regierung alle europäischen Minister für Verkehr und Umwelt nach Amsterdam ein, um sich über intelligente und nachhaltige Mobilität auszutauschen – „Best Practice“-Beispiele zur Förderung der Radkultur inbegriffen. In der Stadt, die als eine der fahrradfreundlichsten Städte weltweit gilt, werden mittlerweile 38 Prozent aller Wege mit dem Rad zurückgelegt. Das Radwegenetz umfasst 400 Kilometer und fast jede Hauptverkehrsstraße ist mit beidseitigen Radwegen ausgestattet.